„Private Raumfahrt ist der nächste logische Schritt“

Die deutsche Weltraumpionierin Claudia Kessler spricht im Interview über Mondmissionen als Innovationstreiber, über die Pläne von Jeff Bezos und Richard Branson sowie den Nutzen von Diversität - im All und auf der Erde.

Claudia Kessler

Claudia Kessler, Jahrgang 1965, will Frauen nach ganz oben bringen: zum einen in den Orbit,  zum anderen in die obersten Etagen der Wirtschaft. Die in Bremen lebende Ingenieurin für Luft- und Raumfahrttechnik ist Gründerin und Geschäftsführerin der Stiftung „Die Astronautin“. Das Programm will dafür sorgen, dass in naher Zukunft erstmals eine deutsche Frau ins All fliegt und darüber hinaus die Technikbegeisterung bei Mädchen durch positive Vorbilder stärken. Außerdem ist Claudia Kessler eine gefragte Speakerin zu den Themen Gleichberechtigung, Diversität und Interdisziplinarität in technischen Berufen.

Liebe Frau Kessler, Sie sind eine der bekanntesten Raumfahrtexpertinnen in Europa. Was hat bei Ihnen persönlich die Faszination für den Weltraum ausgelöst?

Das hat bei mir schon in frühester Kindheit begonnen. Ich war vier Jahre alt, als ich die Mondlandung im TV gesehen habe. Ich war absolut fasziniert und mir war sofort klar: Da willst du auch hin. Ich will da raus in den Weltraum und einmal diesen Blick von oben auf den blauen Planeten erleben. Das hat mich mein ganzes Leben lang begleitet und zu der Überzeugung geführt, dass wir auch auf der Erde einen großen Nutzen aus der Raumfahrt ziehen können.

 

Haben Sie für diesen Nutzen ein paar Beispiele?

Viele Dinge unseres alltäglichen Gebrauchs verdanken wir der Weltraumforschung: Beispielsweise wurden Akkuschrauber für die Apollo-Mondmission entwickelt, denn auf dem Mond gibt es natürlich keine Steckdose. Auch Computerchips und Solarzellen wurden für die Raumfahrt besonders leicht gemacht. Verspiegelte Sonnenbrillen stammen ebenfalls aus der Raumfahrtforschung: Im Weltall ist man in besonderem Maße dem Sonnenlicht ausgesetzt, daher diese Idee. Die Liste ließe sich noch lang fortsetzen und tatsächlich gibt es auch ganze Bücher darüber, welche Errungenschaften der Weltraumforschung wir täglich auf der Erde nutzen. Neben den Dingen des täglichen Gebrauchs profitieren wir aber auch beispielsweise in der Medizin von Untersuchungen am menschlichen Körper. Dieser reagiert in der Schwerelosigkeit anders als auf der Erde; das macht andere Experimente möglich und führt zu wichtigen Erkenntnissen.

Zur Raumfahrt gehören auch Satelliten. Mehrere tausend umkreisen aktuell die Erde. Welche Rollen spielen Satelliten für unser tägliches Leben?

Eine absolut prägende Rolle! Wenn Sie mit dem Smartphone navigieren, dann geht das über Navigationssatelliten. Wenn Sie über eine weite Distanz per Video kommunizieren, dann mithilfe von Satelliten. Auch unser täglicher Wetterbericht basiert auf Daten, die Satelliten uns liefern.

 

Teams für Weltraummissionen sind häufig sehr international zusammengesetzt. Was lässt sich daraus für unsere „normale“ Arbeitswelt ableiten?

Davon kann man sich einiges abschauen. Die Arbeit auf der Internationalen Raumstation ISS ist vergleichbar mit der Arbeit im Remote Office: Sie haben ein Team, das weit weg ist. Die Managerinnen und Manager sowie die weiteren Teammitglieder sind am Boden und im Übrigen auch weit auf der Erde verstreut. Daher gelten hier besondere Regeln für die Kommunikation: Zwischen Erde und Raumstation ist die Kommunikation sehr stark systematisiert, um Missverständnissen vorzubeugen und um von vornherein sicherzustellen, dass das, was ankommen soll, auch wirklich ankommt – in beide Richtungen. Dafür gibt es klar definierte Prozeduren und Abläufe.

 

Was halten Sie von der privatwirtschaftlichen Raumfahrt? Jeff Bezos und Richard Branson ermöglichen ja bereits Ausflüge ins All, die man buchen kann wie eine Urlaubsreise. Ist das lediglich ein Hobby für Milliardäre – oder mehr?

Die private Raumfahrt ist der nächste logische Schritt. Die steuerbezahlte Raumfahrt ist gut für die wissenschaftliche Grundlagenforschung und für die Dinge, die zu risikoreich und zu teuer wären, um sie privat zu realisieren. Über diesen Punkt sind wir im Jahr 2022 aber hinaus. Die Zukunft liegt daher eindeutig in der privaten Raumfahrt. Diese wird unter anderem in deutlich mehr Raketenstarts resultieren, wodurch die Kosten der Starts sinken, während die Sicherheit gesteigert wird. Außerdem gewinnen wir durch die privaten Flüge auch mehr Daten über das Verhalten von Menschen im All. Sehr wichtig ist dabei natürlich immer der Aspekt der Nachhaltigkeit. Deswegen wird auch intensiv an den Einsatzmöglichkeiten für grünen Treibstoff geforscht. Und die Rakete von Jeff Bezos ist bereits jetzt weitgehend CO2-neutral, weil sie von flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff angetrieben wird. Dabei entsteht praktisch nur Wasserdampf.

Flüge ins All haben ja auch einen global-kulturellen Aspekt: Die Landung auf dem Mond hatte damals das Selbstverständnis unserer Spezies einschneidend verändert. Welche Auswirkungen sehen Sie heute – wenn Flüge ins All regelmäßig stattfinden werden?

Menschen, die die Erde von oben aus dem Weltall gesehen haben, beschreiben einen Overview-Effekt: Sie fühlen sich nicht mehr als Bewohner eines Landes, sondern als Bewohner des Planeten Erde. Kriege oder Umweltzerstörung werden aus dieser Overview-Perspektive völlig unverständlich. Die Erde wird als ein wunderbarer und schützenswerter Teil des Universums wahrgenommen. Wenn es mehr Flüge ins All geben wird, dann werden wir diesen Blick von oben auf unsere Welt auch als gesamte Menschheit erleben.

 

Es gibt mittlerweile Pläne für die Besiedelung des Mondes und des Mars. Was erwartet uns in den nächsten Jahren?

Die NASA plant, ab 2024 wieder Menschen zum Mond zu schicken. Dann auch gemischte Teams – also sowohl kulturell gemischt, als auch endlich eine erste Frau auf dem Mond. Im ersten Schritt wird es eine Mondumrundung geben und es soll eine Station in der Umlaufbahn des Mondes gebaut werden – der sogenannte Gateway. Von diesem Gateway aus sollen die Landungen auf dem Mond stattfinden. Dann wird im nächsten Schritt auch Infrastruktur auf dem Mond entstehen. Es gibt bereits jetzt zahlreiche Experimente, bei denen mit 3-D-Druckern versucht wird, aus Mondgestein Struktur herzustellen. So soll der Mond besiedelbar gemacht werden, ohne dass man das Material von der Erde aus dahin transportieren muss.

„Risikomanagement ist in der Raumfahrt das A und O. Und natürlich wird jedes System sehr intensiv getestet.“

Die Risiken in der Raumfahrt sind naturgemäß hoch und auch existenziell. Wie geht man damit um?

Das Risikomanagement in der Raumfahrt ist natürlich das A und O, welches von vornherein dabei ist. Wann immer ein neues Projekt gestartet wird, ist eine Person dabei, die für das Qualitätsmanagement verantwortlich ist. Diese Person berechnet und überprüft laufend etwaige Risiken. Natürlich muss der Projektablauf den Sicherheitskriterien der ESA bzw. der NASA entsprechen. Außerdem wird in der Raumfahrt sehr viel redundant gebaut: Bei einem Satelliten im All kann man keine Kabel mehr löten oder etwas reparieren. Daher werden die kritischen Systeme wie Stromversorgung, Bordrechner oder Kommunikationsinstrumente doppelt eingebaut. Fällt ein System aus, kann man also auf das andere System zurückgreifen. Außerdem werden die Dinge in der Raumfahrt natürlich sehr intensiv getestet – etwa auf die Funktionstüchtigkeit hin, wie auch auf die Startbelastung. Außerdem arbeitet man heute praktisch immer mit einem digitalen Zwilling.